Ich muss zugeben, dass es mir selbst manchmal schwerfällt, Dinge zu verzeihen oder schnell auf eine Entschuldigung einzugehen – ja sogar nachtragend kann ich sein. Wir kennen das bestimmt aus unserem Freundes- oder Familienkreis. Jemand verletzt eine nahe stehende Person und wir bekommen das mit. Nach 2-3 Tagen vertragen sich beide, man freut sich für sie, aber denkt in dem Moment
„Das hätte ich ja schneller verziehen.“ oder „Diese Entschuldigung hätte ich nie angenommen. Wenn man so schnell einknickt, dann merkt die andere Person doch gar nicht, was sie falsch gemacht hat?“
Wir merken: Verzeihen und vergeben gestaltet jeder für sich individuell und hängt von vielen Faktoren, aber vor allem auch zu der emotionalen Beziehung zu dem jeweils anderen ab. Man sagt nicht umsonst, dass diejenigen, die einem am nächsten sind, einen am meisten weh tun können.
Jahre oder Jahrzehntelang hatte ich das Bild im Kopf, dass ein Verzeihen meist mit einem „Ich kann das, was du getan hast, tolerieren“ gleichgesetzt wird. Man hat den Denkfehler, dass das Vergeben damit einhergeht, dass man sich auf die Seite des anderen stellt oder sich zumindest auf diese Person zubewegt. Um der anderen Person zu zeigen, wie sehr man getroffen ist, hüllt man sich lieber in Schweigen. Manche verbinden die Länge des „Anderen-Leiden-Lassens“ noch damit, dass die Dauer bis zum Verzeihen, etwas über die Schwere der verletzenden Tat aussagt.
„Ja, eine andere Person hat uns verletzt und wir wollen sie dafür leiden sehen. Koste es was es wolle – auch wenn es uns selbst unglücklich macht.“
Was ist aber, wenn man die Annahme einer Entschuldigung so sieht, dass man, das was passiert ist, abschließen und loslassen kann? Nicht für die andere Person, sondern für einen selbst. Bestraft man sich irgendwo nicht selbst mit, obwohl man den Gegenüber bestrafen will?
Erst letztens habe ich eine Serie gesehen bei dem die Mutter des Ermordeten dem Angeklagten verzeiht. Ohne, dass er sie um Vergebung gebeten hat, geht sie auf ihn zu und sagt ihm, dass er auf sich aufpassen soll und sie zwar ihren Sohn verloren hat, aber nicht bereit ist, ihn leiden zu lassen, weil er in einem Moment seines Lebens eine falsche Entscheidung getroffen hat.
Das ist sicherlich als sehr gütig anzusehen. Man hatte das Gefühl, dass die Personen um die trauernde Mutter mehr Vergeltung wollten als sie selbst. Das Bild davon, dass jemand bestraft werden sollte, wenn er etwas Böses getan hat, ist fest in uns verankert. Wird dieser Mensch entgegen unserer Vorstellung nicht bestraft, sträuben wir uns innerlich, diese Entscheidung anzunehmen. Wir sagen uns:
„Das kann doch nicht sein, dass jemand, der jemanden verletzt hat, einfach so davonkommt?“
Es ist nicht verwerflich so zu denken, aber führt uns vor Augen wie unser Gerechtigkeitssinn gestrickt ist.
ist sicherlich die Königsdisziplin, aber in so vielen Lebensbereichen wichtig. Manchmal tun wir es sogar unbewusst. Wenn der Chef einem in einem miserablen Ton vor dem ganzen Team fertigmacht, weil die Arbeit nicht seinen Vorstellungen entspricht, ziehen wir uns vermutlich zurück, um das Geschehene zu verarbeiten. Selten würde jemand zurück keifen, den Schreibtisch umschmeißen und den Job anschließend kündigen (wäre aber nachvollziehbar).
Um besser mit allem klar zu kommen, verzeihen wir unserem Vorgesetzten. Er ist zwar nicht auf uns zugekommen und hat uns aktiv um eine Entschuldigung gebeten, aber um die weitere Zusammenarbeit nicht zu gefährden, lassen wir den Vorfall hinter uns. Eine Person, die wir für selbstverständlich halten und uns meist bis zum Lebensende alles verzeiht – selbst, wenn wir uns nicht entschuldigen: unsere Mama. Mütterliche Liebe ist gewiss etwas, was nicht mit anderen Beziehungen vergleichbar ist. Sie ist bedingungslos.
Was wichtig ist und ich mir selbst viele Jahre nicht bewusst gewesen bin, ist, dass die Vergebung keine Entschuldigung voraussetzt. Sie hat vielmehr etwas damit zu tun, dass man loslässt. In wie vielen Fällen im Leben kommen Menschen zu uns und entschuldigen sich tatsächlich dafür, was sie getan haben? Manchmal passiert das gar nicht oder erst sehr spät.
„In solchen Fällen innerlich an dem Geschehen festzuhalten führt nicht nur dazu, dass wir uns immer mehr hineinsteigern, sondern auch uns selbst schaden, weil wir uns in eine Opferrolle stecken.“
Dies führt letztendlich dazu, dass wir immer mehr negative Emotionen aufbauen. Diese sind dann langfristig schädlich für unsere psychische Gesundheit.
Worin wir noch härter sind, ist die Vergebung an uns selbst. Wir haben alle schon paar Jahre auf dem Buckel und sicherlich die eine oder andere Sache absichtlich oder unabsichtlich vollzogen und uns dann selbst mit Fragen gequält wie „Wie konnte ich es nur so weit kommen lassen? Was ist da in mich gefahren? Wie kann ich das wieder gut machen? etc.“ Auch hier ist es wichtig, dass man sich zwar mit der Situation (mit oder ohne die beteiligten Personen) auseinandersetzt, aber auch nach diesem Prozess einen Haken hinter die Sache macht. Wie heißt es so schön?
„Nobody is perfect“
Seid in diesen Momenten eher stolz auf euch, dass ihr die Fähigkeit hattet, euch selbst zu reflektieren. Jetzt gilt es daraus die Lehren für die Zukunft zu ziehen. Gerade weil man selbst nicht perfekt ist, ist es wichtig sich stets vor Augen zu halten, dass die Mitmenschen es auch nicht sind. Letztendlich steht eins fest:
„Wenn wir möchten, dass uns unsere Mitmenschen vergeben, dann müssen auch wir lernen, zu verzeihen – uns selbst und anderen.“
Was ist, wenn die andere Person die Vergebung nicht wertschätzt? Den Fehler nochmal begeht? Oder der Prozess Wunden offen lässt? Ist es dann nicht besser, dem Ganzen den Rücken zu kehren und nach vorne zu blicken?
Kann richtig sein – ist alles möglich. Für mich ist aber klar geworden, dass es hier nicht erstrangig um den Gegenüber geht, sondern um mich selbst. Ich möchte mich besser fühlen, also verzeihe ich. Die Frage ist also:
„Will ich meinen Rucksack immer weiter mit Ballast vollpacken und ihn mit mir herumtragen oder ist es sinnvoll für meine Zukunft die ein oder andere Sache abzulegen und nach vorne zu blicken?“
Wie man danach handeln möchte ist eine neue Entscheidung. Vorher geht man alle möglichen Szenarien durch, denkt sich „Das ist aber ungerecht, dass eine Person die mich so sehr verletzt hat, so „leicht“ davonkommt. Also bleibe ich lieber meinen Prinzipien treu und lehne jede Entschuldigung ab bis sie meinen Maßstäben entspricht.“ Nachvollziehbar. Ausschlaggebend ist aber, dass Verzeihen nicht damit einhergeht, dass man alles akzeptiert und die andere Person weiterhin einen Teil im Leben ausmacht. Sondern vielmehr, dass es zwei Entscheidungen für sich sind.
Es gibt sicherlich für jeden ein anderes Wertesystem, wann und wem man verzeihen möchte, aber bei jedem Konflikt in sich zu gehen und sich zu fragen: „Ist diese Situation meinen persönlichen Ärger und nachfolgenden Stress wert? Möchte ich ein Gefangener meiner Vergangenheit sein?“ kann einem die darauffolgende Handlung erleichtern. Man muss gewiss nicht alles verzeihen und auch nicht immer sofort eine Entschuldigung annehmen.
Jedoch kann die Sichtweise Verzeihen als Befreiung für einen selbst und nicht als Bestrafung der anderen Person erleichternd wirken. Wie das Beispiel von der Dame, die dem Mörder ihres Sohnes verziehen hat, definiert jeder seinen eigenen Maßstab dafür, wann er eine Entschuldigung annehmen möchte. Lasst euch nicht dabei von gesellschaftlichen Maßstäben verunsichern. Was für den einen unverzeihlich ist, kann für euch mit weniger oder mehr Mühe annehmbar sein. Die Vergebung hat schlussendlich mehr mit uns selbst als mit der anderen Person zu tun – denn
„Vergebung bedeutet Loslassen.“
Bild („Buddha“) unter Creative Commons Lizenz von Stefan Rüdiger