Wenn wir gesellschaftlichen Maßstäben nicht entsprechen, werden wir verurteilt, ausgeschlossen oder gar abgestoßen. Verschiedene Rollenbilder helfen uns, Richtlinien für das gemeinsame Leben zu schaffen. Glaubenssätze wie
„So hat sich eine tamilische Frau zu benehmen.“
kreieren allerdings eine imaginäre Zwangsjacke. Als unsere Eltern ihre Heimat verlassen haben, um Schutz vor dem Krieg zu suchen, war es die oberste Priorität, sicher zu sein. Es ist nicht verwunderlich, dass gerade viele nach Europa geflohen sind. Der hohe Lebensstandard in vielen Bereichen, wie medizinische Versorgung, Bildung, Job oder Nahrungsangebot, schien eine Goldgrube zu sein. Was aber ein deutlicher Nebeneffekt ihrer Flucht war, ist das Aufwachsen ihrer Nachkommen zwischen zwei, teilweise gegensätzlichen Kulturen. Die ganze Mühe, das Leben von drüben hier weiterzuleben und diese Werte an ihre Kinder weiterzugeben, scheint vergeblich.
Ich bin sehr dankbar, dass meine Eltern diesen schweren Balanceakt aus ihrer und der westlichen Kultur perfekt hinbekommen haben. Als Älteste unter drei Kindern habe ich immer eine Vorbildfunktion gehabt und musste mir aber auch umso mehr erkämpfen. Quasi den Weg für meine jüngeren Geschwister „frei schaufeln“. Ich weiß noch als ich mitten im Abitur steckte, war es meine Pflicht vor 20 Uhr zu Hause zu sein. Das mag nicht erstrangig etwas mit der Kultur, sondern der Erziehung allgemein zu tun haben. Was aber untypisch war bzw. ist, ist, dass meine Eltern meinen Geschwistern und mir die gleichen Rechte eingeräumt haben. Mein Bruder bekam keine besondere Behandlung als wir Mädchen. Kam er mal z.B. später als abgemacht nach Hause gab es genauso viel Ärger.
Ich war schon immer jemand, der Dinge hinterfragt hat, statt sie einfach hinzunehmen. Genauso habe ich es auch bei dem tamilisch geprägten Frauenbild getan. Obwohl meine Eltern mir und meinen Geschwistern von klein auf mitgegeben haben, dass keine geschlechtsspezifischen Unterschiede herrschen sollten, bin ich gerade in Unterhaltungen und Begegnungen mit anderen Tamilen auf gegensätzliche Sichtweisen gestoßen.
ist in der tamilischen Kultur teilweise altmodisch geprägt. Männer bekommen automatisch mehr Rechte zugesprochen als wir Frauen.
„Feiern, Alkoholkonsum und Kontakt zum anderen Geschlecht? Sollte für eine Frau ein Tabu sein. Wohingegen ein Mann sich ausleben darf wie er will ohne großartig Konsequenzen befürchten zu müssen.“
Eine extreme Denkweise, der ich hin und wieder begegnet bin ist, dass der Mann seiner Frau so viel Leid zufügen darf wie er möchte – sie ihm aber trotzdem weiterhin treu die Hand hält. Wie oft bekommt man mit, dass Frauen geschlagen werden? Oder manche Männer sich das Recht nehmen, mit fremden Frauen anzubandeln? Das soll nicht heißen, dass nur männliche Wesen imstande sind solche Taten zu vollbringen. Auch unter Frauen gibt es derartiges Verhalten. Der Unterschied besteht darin, dass die Frauen schnell in den Abgrund geredet werden während bei Männern Entschuldigungen für deren Taten gesucht werden. Das geht sogar so weit, dass von dem weiblichen Geschlecht erwartet wird, trotz allem bei ihrem Mann zu bleiben. Denn was wird die Gesellschaft denken, wenn sie sich trennt?
Was ich nicht mit dem Beitrag sagen will ist, dass eine Frau aufhören sollte zu kochen oder Kinder zu kriegen. Egal wie man sich anstrengt: Männer können nicht schwanger werden. Bestimmte Rollen sind vorgesehen und so tief in uns kulturunabhängig verankert, dass sie sich nie ganz ablegen lassen. Trotzdem ist das Gefälle zwischen Mann und Frau gerade bei uns nach meinem Geschmack extrem.
Hat eine Frau zum Beispiel auch Männer in ihrem Freundeskreis wird das aus den unterschiedlichen kulturellen Perspektiven mehr oder weniger kritisch betrachtet. Das widerspricht nicht nur der Zeit in der wir leben, sondern auch der Kultur in der wir aufgewachsen sind. Man hat das Gefühl, dass viele stark konservativ geprägte Menschen eine Kapsel um sich herum bilden und am liebsten unter sich sein wollen. Integrieren tun sie sich auch nicht wirklich, sondern halten starr an ihren Werten fest. Und wenn sich dann Mitmenschen aus ihrem Heimatland entgegen ihren Vorstellungen verhalten, indem sie Werte aus der anderen Kultur annehmen, werden sie in eine Schublade gesteckt.
Ich war früher hier viel radikaler eingestellt, indem ich gedacht habe, dass Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer.
„Umso älter ich wurde, umso mehr habe ich begriffen: Es geht nicht darum, Rollen umzuverteilen, sondern die Frau als gleichwertig zu erachten – egal wie und wodurch sie ihre Rolle erfüllt.“
Ich persönlich habe kein Problem damit, später eine Zeit lang zu Hause zu bleiben, mich um die Kinder zu kümmern, den Haushalt zu führen, aber ich möchte vorher meine beruflichen Ziele und Träume verwirklichen. Es ist zwar immer noch möglich sobald man seine eigene Familie hat, aber sind wir ehrlich: es ist schwieriger. Die typische Hausfrauenrolle, wie es viele unserer Mütter gelebt haben, passt im Moment nicht zu mir. Aber man muss auch beachten, dass diese unter anderen Umständen aufgewachsen sind. Wenn jemand sich dieser Rolle fügen will, dann ist es die Entscheidung der Person. Trotzdem hat keiner das Recht jemanden zu verurteilen, nur weil die andere Person nicht ihrem Bild einer tamilischen Frau entspricht.
Gerade viele aus der älteren Generation definieren den Wert einer Frau darüber, ob sie vor 30 Kinder bekommt, verheiratet ist, ihrem Mann und ihrer Familie gehorsam ist. Für einen Mann gelten andere Richtlinien, damit er gesellschaftlich angesehen ist. Er muss am besten Arzt oder Ingenieur sein, sich gut um seine Familie sorgen und sich in der Gesellschaft gegen andere behaupten können. Die Umgebung um uns herum entwickelt eine Zwangsjacke oder einen goldenen Käfig, in den jeder von uns hineingepresst wird.
„Und wehe wir entsprechen nicht den Vorgaben. Dann hat man gesellschaftlich versagt.“
Zudem habe ich das Gefühl, dass unterschiedliche Toleranzbereiche für Männer und Frauen gelten. Frauen werden schneller für ihr Verhalten bestraft als Männer.
Einem anderen Beispiel bin ich mal vor Jahren in einer tamilischen Facebook Gruppe begegnet als ich einen Beitrag darüber verfasste, wie sehr es mich aufregt, dass manche tamilische Herren sich penetrant gegenüber uns Frauen verhalten, indem sie ein einfaches Nein nicht akzeptieren können. Es ging im Wesentlichen darum, dass wir Frauen häufig immer wieder von denselben Männern angeschrieben werden. Das mündet manchmal in Beschimpfungen, wenn wir die Nachrichten ignorieren. Auffällig war, dass die meisten Frauen viel sachlicher argumentiert haben während von einigen Männern Kommentare kamen wie
„Wenn man sich so kleidet, darf man sich nicht über solche Probleme wundern.“ oder „Dann ignorier doch die Anfragen“ bis hin zu Aussagen wie „Wieso schreiben sie euch statt einer hübschen Frau?“
Erschreckend war, dass sogar einige Frauen diesen Aussagen zustimmten. Über die meisten Kommentare konnte man noch lachen, aber ist es nicht schrecklich, dass gefühlt das Verhalten der Männer gerechtfertigt wurde? Wir Frauen sollten uns anders verhalten, dann würde uns auch nicht so etwas passieren? Das gleicht der Erklärung, dass man sich nicht draußen zeigen sollte, um einer Vergewaltigung zu entgehen.
Was ich aber festgestellt habe ist, dass vor allem meine Mama durch uns Kinder gelernt hat, Werte aus der westlichen Kultur anzunehmen. Rollen werden neu definiert, Kulturen entwickeln sich weiter. Ja – ihr habt richtig gehört, denn auch eine Kultur entwickelt sich durch die Menschen, die sie leben weiter. Dazu gehört es auch, dass man hinterfragt, ob die Normen noch aktuell und vor allem noch so ausgelebt werden können wie sie vorgesehen sind. Aber damit unsere Eltern lernen können müssen wir auch in Konfrontation mit ihnen gehen. Wenn wir stillschweigend alles akzeptieren, dann ist es nicht verwunderlich, dass unsere Eltern noch das Weltbild in sich haben wie vor über 20 Jahren als sie hierherkamen. Das betrifft nicht nur wie in diesem Beispiel die Rollenverteilung, aber auch Themen wie die Kaste. Wir sind ihre Verbindung zum Land, in dem wir leben.
Meine persönliche Beobachtung ist, dass Personen, die gebildet sind, offener gegenüber Veränderungen sind als Menschen, die sich weniger mit sich und ihrer Umwelt befassen. Auch hier: Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber ich denke gerade die Offenheit, neue Perspektiven kennenzulernen und für mich das Beste herauszupicken, hat mich überhaupt so reifen lassen. Und das wichtigste: Ich bin glücklich, weil ich mit mir und meiner Umwelt im Einklang bin.
Ist vielleicht etwas weit hergeholt, aber im Naziregime, hat Hitler vor allem davon profitiert, dass vielen Menschen die Struktur, der äußere Rahmen – vielleicht auch irgendwo die Kultur – fehlte. Als er an die Macht kam und dem Alltag mehr und mehr Struktur verlieh, indem er radikale Regeln für das Zusammenleben miteinander festlegte, gaben viele das eigenständige Denken auf. Einerseits aus Angst vor Sanktionen und andererseits durch Schaffen eines extremen Wir-Gefühls. Kultur verbindet – so viel steht fest. Aber es ist auch zu sehen, dass Menschen, die sich geistig nicht viel mit sich und ihrer Umwelt beschäftigen, sich an äußeren Maßstäben orientieren. Während Personen, die viel kritisch hinterfragen und versuchen, ihre eigene Denkweise zu entwickeln, offener für Neuerungen sind.
„Vor allem sind sie eher dazu bereit, Widerspruch einzulegen, wenn sie nicht bereit sind, Verhaltensweisen so auszuleben wie sie gesellschaftlich vorgesehen sind.“
Hin und wieder begegnet man Personen, deren einer der ersten Fragen ist
„Hast du viel mit Tamilen zu tun? Nein? Ja ich halte mich auch lieber von denen fern. Gibt nur Stress und Ärger.“
Ich bekomme immer mehr das Gefühl, dass es „uncool“ ist, zu viele Tamilen in seinem sozialen Kreis zu haben, denn irgendwie verbindet man negative Emotionen mit diesen Personen. Irgendwie schade oder? Einmal sagte mir jemand sogar, dass Tamilen von der Person gehasst werden. Noch nie habe ich eine deutsche Person sagen hören, dass sie Deutsche hasst, aber bei uns kommt dies hin und wieder vor. Aber wieso? Ganz einfach, weil Menschen, die sich nicht dem ursprünglichen Bild anpassen wollen, hart verurteilt werden, es wird über sie hergezogen, manchmal werden sie sogar persönlich angegriffen und das, weil sie ein anderes Leben für sich ausgesucht haben als es manch einer von uns getan hat. Wieso stört uns das so sehr, obwohl wir meist gar nicht davon betroffen sind?
Eine andere Möglichkeit ist, dass man zwei Leben führt. Eins in Kontakt mit der westlichen Kultur (Arbeit, Uni, Schule, mit den „hellhäutigen Freunden“) und eins zu Hause, in seinem sozialen Kreis. Das führt dazu, dass die Personen nie ganz in Einklang mit sich selbst kommen, hin und her gerissen sind welches Leben sie bevorzugen und dann letztendlich einen Mittelweg fahren, der langfristig unglücklich macht. Einerseits wollen sie sich nicht selbst durch ihre Lebensart ausgrenzen und „dazu gehören“ und anderseits fühlen sich sich dem Elternhaus gegenüber verpflichtet, das kulturelle Erbe weiterzuverfolgen. Ich weiß noch damals hatte ich in meinem Jahrgang ein Mädchen, dass mit einem Schminkbeutel und Wechselklamotten zur Schule kam. Sie wirkte an sich ganz umgänglich, aber man wusste nie genau wer sie war und welche Werte sie letztendlich verfolgte.
Eben die Denkweise wie in den aufgeführten Beispielen lässt viele Jugendliche und junge Erwachsene ihre Herkunftskultur verstoßen.
„Der gesellschaftliche Fleischwolf passt vielen nicht. Deshalb ziehen sich lieber ganz zurück als sich jemals mit ihren Wurzeln und ihren Mitmenschen auseinander setzen zu müssen.“
Das ist nicht nur schade, sondern nimmt uns die Chance, über uns selbst hinaus zu wachsen, neue Perspektiven und Lebensweisen kennenzulernen. Im eigenen Trott gefangen zu sein mag für viele attraktiv sein und sie sogar glücklich machen, aber sie sollen aufhören auf Personen zu schielen, die sich entschieden haben, ihr Leben anders zu gestalten.
Bekennt euch zu dem, wer ihr seid und was euch glücklich macht. Ich denke mir immer, dass ich als alte Frau nicht in meinem Sessel sitzen will und denke
„Hätte ich mal damals den Mut gehabt, meinen eigenen Weg zu gehen.“
Das Leben ist zu kurz, um es uns vorschreiben zu lassen.
Bild („Heart Line“) unter Creative Commons Lizenz von David Goehring
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