Jeder weiß wie schwierig es ist, den tamilischen Verwandten oder der Gesellschaft zu sagen, man hätte etwas abgebrochen. Ein Neuanfang? Kaum denkbar in unserer Gesellschaft.
„Etwas nicht zu Ende zu führen, ob in der Ausbildung oder auch in einer Ehe, bedeutet in ihren Augen, dass man im Leben versagt hat.“
Wo eine Tür sich schließt, öffnet sich eine andere, oder nicht? Anstatt diese Situation wie einen Neuanfang zu betrachten, fokussieren sich die Mitmenschen auf das Ende eines Lebensabschnitts. Und sie machen noch viel mehr: Statt zuversichtlich in die Zukunft zu blicken, betrachten sie diese Situation als Ende des eigenen Lebens – wie den ersten Schritt zu einem negativen Lebensverlauf.
„Bist du erstmal geschieden oder orientierst dich beruflich um, hast du einen Versager-Stempel auf deiner Stirn, der erwarten lässt, dass du auch weiterhin im Leben der sogenannte Versager bleiben wirst.“
Wie oft studieren oder machen einige Jugendliche eine Ausbildung nur um der Gesellschaft oder den Eltern zu gefallen, anstatt sich selbst zu fragen, ob es überhaupt ihren Wünschen und Interessen entspricht? Ich kenne einige, die in ihrem Berufsleben unglücklich oder sogar psychisch krank geworden sind. Das Problem lag darin begraben, dass sie stets ihre eigenen Wünsche hinten angestellt haben. Sie richteten sich eher nach den Wünschen Anderer als auf ihr Inneres zu hören.
Will man irgendwann im Sterbebett sagen „Ich habe nach meinen eigenen Erwartungen gelebt.“ oder „Ich wünschte ich hätte mehr auf mich gehört anstatt auf Andere.“?
Heute möchte ich mit euch meine persönliche Geschichte teilen. Euch zeigen, wie es ist mit sich zu hadern, wenn man weiß, dass ein Lebensabschnitt nicht der Richtige für einen ist und wie man letztendlich den Mut hat, aus dieser Situation herauszukommen.
Während meines Fachabiturs stellte ich mir die Frage, welchen Weg ich beruflich einschlagen sollte. Ich wusste, dass ich auf jeden Fall in die soziale Richtung möchte, denn das entsprach meinen Werten. Also entschied ich mich, ein FSJ (Freiwilliges Soziales Jahr) zu machen. Auch wenn dieser Wunsch von der Gesellschaft – vor allem von der tamilischen Gesellschaft – oft belächelt wurde.
„Ich solle doch direkt studieren gehen, da ein FSJ Zeitverschwendung wäre und die Arbeit mit beeinträchtigten Kindern ein eher minderwertiger Job sei.“
Im Nachhinein war ich sehr froh über die Entscheidung, es doch gemacht zu haben. Es bereitete mir große Freude, die Kinder zu beobachten, wie sie sich an Kleinigkeiten erfreuten – was für uns „gesunde“ Menschen total normal ist. Sie steckten mich mit ihrer Lebensfreude an und ich lernte mein Leben mehr zu schätzen und dankbar zu sein, für die „kleinen Dinge“ im Leben. Rückblickend betrachtet war das FSJ eine der schönsten Zeiten in meinem Leben.
Aber wie sollte es nach dem beeindruckenden und prägenden Jahr weitergehen? Ich wusste, dass ich eher der Praktiker war, als ein Akademiker. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen in Vorlesungen zu sitzen, einen langen Bildungsweg vor mir zu haben oder noch nicht mein eigenes Geld zu verdienen. Das war nicht ich. So begann ich gegen den Willen meiner Eltern die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester. Die Ausbildung bedeutete für mich gleichzeitig von zu Hause ausziehen zu müssen. Ein neuer Lebensabschnitt hatte für mich begonnen. Meine Eltern hatten wahrscheinlich mehr Angst als ich.
„Was wäre, wenn ich es nicht schaffen würde, allein zurecht zu kommen? Was ist, wenn ich versage oder es die falsche Entscheidung war?“
Tamilische Eltern sind sehr auf Sicherheit geprägt. Die meisten wollen, dass ihr Kind eine vernünftige Ausbildung in der Verwaltung, Medizin oder im Finanzwesen anstrebt. Heute kann ich sagen, dass ich in diesem Moment sehr rebellisch war und mich stark meinen Eltern widersetzt habe. Trotzdem habe ich es gemacht, weil ich endlich ein Abenteuer erleben wollte, mich ausprobieren und mich selbst an meine Grenzen bringen wollte.
Dann kam der Moment, wo ich tatsächlich meine Grenzen zu spüren bekam, sodass ich mich ausgelaugt fühlte. Tief in meinem Herzen spürte ich, dass ich für diesen Job nicht gemacht war. Ich habe mich falsch gefühlt an diesem Ort. Aber wie so oft, hört man eher auf seinen Verstand als auf sein Herz.
„Immer wieder sagte ich mir: ‚Du kannst doch jetzt nicht abbrechen!‘, ‚Was denkt dein soziales Umfeld von dir? – sie werden dich als Versagerin ansehen, deine Eltern werden nicht mehr stolz auf dich sein und du machst sie dadurch so unglücklich.'“
All diese Gedanken gingen mir durch den Kopf. So schleppte ich mich immer wieder zur Arbeit – bis irgendwann auch mein Körper streikte und mich die Arbeit gesundheitlich sehr belastete. Ich wusste, ich musste eine Entscheidung treffen, sonst würde ich untergehen. Irgendwann stellte ich mir die Fragen:
„Lebe ich nach meinen Erwartungen oder den Erwartungen Anderer?“
Ich wollte mein Leben endlich selbstbestimmt leben, nach meinem Glück und nach meinen Vorstellungen. Der Gedanke daran, was die Gesellschaft wohl denken würde, wenn man was abbricht und nicht einen geraden Lebensweg aufweisen kann, kostet einfach zu viel Energie, Kraft und Zeit. Aber ich habe diese Phase gebraucht, um mir bewusst zu werden, was ich wirklich im Leben möchte und was nicht. Ich wusste, dass mich die Arbeit mit „kranken“ Kinder nicht erfüllte. Ich wollte mit „gesunden“ Kindern arbeiten und brach schlussendlich die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester ab.
„Rückblickend betrachtet, war dies die beste Entscheidung, die ich je treffen konnte. Auch wenn dies hieß, wieder zu meinen Eltern zu ziehen und wieder von vorne anzufangen.“
Anschließend begann ich die Ausbildung zur Erzieherin und mir fiel es sehr schwer darüber zu reden, wieso ich meine erste Ausbildung abgebrochen hatte oder überhaupt zu erwähnen, dass ich etwas abgebrochen hatte. Nach einiger Zeit lernte ich damit umzugehen. Dabei musste ich mir viele Dinge von der tamilischen Gesellschaft anhören, wie zum Beispiel
„Enni vayasu povume, veena varasatha elutitinga“ [„Jetzt wirst du immer älter. Du hast Jahre verschwendet.“]
Klar denkt man sich: „Wieso habe ich nicht schon vorher aufgehört oder mich für den falschen Weg entschieden?“ Heute weiß ich, dass ich diesen Prozess gebraucht habe. Auch wenn man scheitert, ist es besser, dass man auf Basis seiner eigenen Entscheidungen scheitert und nicht aufgrund dessen, was Andere für einen selbst bestimmt haben.
„Ich denke es geht vielen so aber viele trauen sich nicht, einen anderen Weg einzuschlagen, weil sie die Erwartungen von den Eltern erfüllen möchten, anstatt nach ihren eigenen Erwartungen und Werten zu leben.“
Heute kann ich sagen, dass ich sehr glücklich mit meinem Neuanfang bin. Die Zeit in der ersten Ausbildung hat mich sehr geprägt und mich zu einem starken Menschen gemacht, der für sich einstehen kann und das Leben mit anderen Augen sieht. Ich weiß, jetzt was für ein Mensch ich sein möchte und auf welche Weise ich auf der Welt etwas beitragen möchte. Ich bin nicht der Meinung, dass es im Leben darum geht, dass wir keine Fehler machen dürfen.
„Fehler sind Erkenntnisse darüber, wie etwas nicht funktioniert und auch dieses Wissen kann unglaublich wertvoll sein.“
Bild („Underneath the Pier“) unter Creative Commons Lizenz von Dave Brooks
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