Während in der westlichen Kultur es als „hipp“ oder „cool“ gilt, möglichst früh zuhause auszuziehen und auf den eigenen Beinen zu stehen, ist es bei uns Tamilen meist verpönt. Ja, sogar belächelt werden Menschen, wenn sie im Westen länger als 30 Jahre in dem Elternhaus verbringen. Im Gegensatz hierzu ziehen zwar viele junge Menschen aus der östlichen Kultur, in Erwägung ihr Zuhause zu verlassen, aber die wenigsten trauen sich diesen finalen gewinnbringenden Schritt. Aus Angst, dass das Bedürfnis nach Selbstständigkeit und Privatsphäre nicht anerkannt wird, entscheiden sich die meisten dann doch zu Hause wohnen zu bleiben. Um nicht zuletzt fragen wie:
„Deine Eltern wohnen doch in der Nähe – wieso möchtest du denn ausziehen?“
zu umgehen.
Ja der Drang auf eigenen Beinen zu stehen und sich selbst zu entdecken wird nur selten verstanden. Selbst, wenn es die eigenen Eltern verstehen, kommt es dann spätestens zu Konflikten, wenn Verwandte und Bekannte sich in die Thematik einmischen. Unverständnis dafür, dass dieser Schritt zwischen Elternhaus und Eheleben nötig ist, um heranzureifen, liegt in den meisten Fällen vor. Der Druck darüber, was die Mitmenschen denken könnten, liegt den Eltern darüber hinaus schwer auf der Schulter. So kommt es dazu, dass die Unterstützung beim Auszug gering oder gar nicht vorhanden ist.
Wenn man als junger Mensch, insbesondere als junge tamilische Frau ausziehen möchte, dann passiert dies meist nur, weil man in einer anderen Stadt oder einem anderen Land studiert oder eine Ausbildung macht. Selten lassen tamilische Eltern Gründe wie die Eigenständigkeit durchgehen, weil sie viel zu sehr Angst davor haben, was andere denken könnten.
„Wenn die Nachbarn sehen, dass du nicht mehr ein und ausgehst, was sollen sie sagen? Dann heißt es, dass wir keine funktionierende Familie sein oder wir dich nicht im Griff haben.“
Wenn es dazu kommt, dass man sich doch durchsetzen kann und sein eigenes Reich aufbaut, dann kommt es manchmal zu der Bitte der Eltern, den Aufbruch in das eigene Leben geheim zu halten – aus Angst darüber, was Andere denken könnten.
Was aber passiert, wenn man sich eher entscheidet, das behütete Nest zu verlassen und den Kampf mit der Welt der „Erwachsenen“ aufzunehmen? Was sich alle vorstellen sind
Kurz gesagt: Endlose Freiheit und Dinge tun, die sonst von den Eltern eingeschränkt werden würden. Die Realität sieht aber anders aus:
Verlässt man das Elternhaus, verlässt man auch das gut behütete Nest. Manchmal kommt man ausgehungert nach der Arbeit nach Hause und Mama hat nicht unser Lieblingsessen gekocht oder unsere Wäsche gemacht – das machen wir alles selbst.
All die verbotenen Dinge, die sich die Gesellschaft vorstellt und ihres Erachtens nach macht, wenn man alleine lebt, sind der Auslöser dafür, dass viele von uns nicht diesen Schritt wagen. Ich denke mir allerdings, wer definiert was „gut“ und was „böse“ ist? Wenn wir uns selbst und uns unsere Eltern vertrauen, dann liegt es an uns selbst was wir aus dem eigenen Heim machen. Wenn man die Absicht hat, Dinge zu tun, die gesellschaftlich nicht vorgesehen sind, dann ist die eigene Wohnung das kleinste Hindernis. Allein leben und „scheiße bauen“ hat also nichts mit der Tatsache zu tun, dass man allein lebt, sondern mit der Person – besser gesagt ihrem Charakter.
Ein weiterer Faktor ist, dass unsere Eltern es nicht anders kennen. Kaum einer hatte von ihnen diese Phase im Leben ausleben dürfen. In Ländern wie Sri-Lanka ist es üblich, dass der Ehemann die Ehefrau aus dem Elternhaus zu sich nimmt. Zudem erhöht sich das Heiratsalter immer weiter, das heißt, eine Frau oder ein Mann, die früher mit Anfang – Mitte 20 geheiratet haben, heiraten heute üblicherweise Ende 20 oder später. Das Ablösen von zu Hause erfolgt zu einem anderen Zeitpunkt und es etabliert sich immer mehr eine Übergangsphase: das selbstständige Wohnen.
Ich weiß noch als ich das Abitur beendet habe und in einer Phase war, in der ich meine eigene Identität noch nicht gefunden bzw. kreiert hatte. Irgendwie führte eine Mischung aus Selbstfindung, Erwachsen-werden-wollen und Neugier dazu, mit 21 Jahren auszuziehen. Ziemlich früh würden manche sagen. Andere wiederum fragen direkt „Oh nein gab es Probleme zu Hause? Besuchst du noch deine Familie regelmäßig? Redet ihr noch miteinander?“. Was ich mich immer frage ist:
„Muss es immer einen negativen Trigger dafür geben, dass wir uns entscheiden, auf eigenen Beinen zu stehen? Wieso kann nicht was Positives uns dazu verleiten, ein anderes Leben zu leben als das, was uns die Gesellschaft vorgibt?“
Eine Zeit, die einen manchmal an die Grenzen bringt, aber auch umso mehr reifen lässt. Ich habe mal sogar gelesen, dass viele diese Phase zwischen Elternhaus und späterem Eheleben brauchen, um eigenständig zu werden – ich brauchte es definitiv. Ich sage auch immer wieder, dass ich eine ganz andere Frau geworden wäre, hätte ich diese Chance nicht gehabt.
„The you today is shaped by the decisions you made yesterday“ („Dein heutiges du ist durch deine vergangenen Entscheidungen geformt worden“)
Was mich das Alleinleben definitiv gelehrt hat ist: Das man etwas dafür tun muss, wenn man etwas haben möchte und nicht alles in den Schoß fällt. Ich bin immer offen damit umgegangen, dass ich allein lebe, weil ich nichts Schlimmes darin gesehen habe, sich ein eigenes Leben – unabhängig von seiner Familie – aufzubauen. Meine Familie geht ebenso offen damit um. Wir Menschen sind nicht alle mit dem gleichen Bedürfnis an Eigenständigkeit gekennzeichnet. Deshalb ist es nicht verwerflich, wenn man ab 25 „immer noch“ zu Hause lebt, aber genauso verständlich, wenn man die Phase in seinen 20ern dazu nutzen möchte zu erfahren, wer man selbst ist und wie es ist, auf eigenen Beinen zu stehen.
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