Ich erinnere mich noch an diesen heißen Sommertag – meine Freundin Jessy und ich – wir lachen und genießen das Leben. Wir waren noch Schülerinnen. Wie alt sind wir wohl gewesen? Ich weiß es nicht mehr genau – vielleicht 17,18. Ich weiß es nicht mehr.
„Alles was mir vor meinem Gesicht schwebt ist, dein herzliches Lachen. Das Lachen, das deinen Lippen entwich, wenn wir uns darüber beschwerten, wie hart das Leben sei und wie uns gesellschaftliche Erwartungen innerlich in Unruhe versetzten.“
Waren wir rebellisch? Junge Frauen auf dem Weg, uns selbst zu finden? Individuell? So wie uns die meisten sahen – vielleicht schon. Denn wie auch die anderen über uns denken mögen – uns war es egal. Wir hatten uns und das war uns genug. Du, Jessy, hast einen großen Teil dazu beigetragen, dass ich heute so bin wie ich bin. „One in a million“ das sagt man eigentlich zu einem Partner, der so einzigartig ist, dass man froh ist, ihn gefunden zu haben, aber das warst du für mich – One in a million.
Vor 12-13 Jahren war es noch schwieriger eine Freundin zu finden, die die gleichen Weltanschauungen hatte wie man selbst. Social Media war in seinen Kinderschuhen und doch hatten wir uns irgendwie gefunden. Du und ich – gemacht wie für eine innige Verbindung zueinander. Wenn ich dich getroffen habe, habe ich mich ein Stück weit wie zu Hause gefühlt.
„Ein Ort, an dem ich so sein konnte, wie ich bin. In einer Welt voller Erwartungen an ein tamilisches Mädchen, gesellschaftlichen Regeln und Verurteilungen sobald man nicht diesem Bild entsprach, warst du einer meiner Zufluchtsorte.“
Ich wusste schon immer, dass ich anders bin. Genau das hat uns verbunden und wird uns auf ewig verbinden. Wo man sich sonst eine Maske aufziehen musste, um zu sein wie man ist, waren unsere Unternehmungen immer von Spaß geprägt – die Maske konnte man getrost zu Hause lassen.
Von Social Media Mobbing bis hin zu Problemen in unserem Privatleben haben wir alles zusammen durchgemacht. Wir waren anders. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich dich darin bestärkte, zur Polizei zu gehen, die Menschen anzuzeigen, die dich auf den Sozialen Medien fertig machen wollten – dafür, dass du anders warst, als sie sich es vorstellten.
„Man denkt immer, dass die Mitmenschen aus den älteren Generationen brutal seien. Einen dafür verurteilen würden, wie man ist. Aber es sind meist die Menschen aus der eignen Generation, die einem auf die brutalste Weise klar machen, dass es nicht so akzeptiert werden kann, dass man anders ist, anders denkt und anders in die Welt geht.“
Damals wurde zwar gegen das Mobbing auf Sozialen Medien kaum bis gar nicht vorgegangen, weil es ein neues Gebiet war. Dennoch war es mir wichtig, dass wir ein Zeichen dagegen setzen, dass sich Frauen, alles gefallen müssen. Dass sie Verachtung fürchten müssen, wenn sie sich nicht typischen Rollenbildern fügen. War das gerecht? Nein. Und gerade deshalb war es eine Genugtuung, dass die Person mit einer Entschuldigung auf dich zu kam. So ist es bei Peinigern. Sobald sie merken, dass sie keine Macht über einen haben, fühlen sie sich klein.
So besonders unsere Freundschaft war, so besonders war es auch, wenn wir uns nach Monaten wiedersahen und herzlich über uns selbst und das Leben lachen konnten. 2011 schrieben wir noch gegen Ende des Jahres, dass wir uns sehen sollten. Wir legten Februar fest, weil in unserem Leben mal wieder viel los war. Entspannt und gleichzeitig liebevoll war unser Verhältnis. Bis ich im Januar eine SMS von dir bekam, in der stand, dass du wegen gesundheitlichen Beschwerden ins Krankenhaus müsstest. Wir hielten es für einen normalen Infekt, der vorüber gehen wird.
Bis einige Tage später noch eine SMS kam, dass du jetzt auf die Intensivstation müsstest. Du schriebst, dass du mich liebst – es klang wie ein Abschied, aber in diesem Moment nahm ich die SMS zur Kenntnis und wünschte dir Gute Besserung. Tage später schrieb ich dir SMS, Nachrichten auf Social Media – nichts. Keine Antwort. Dass, wir uns nicht sofort antworteten war nichts Ungewöhnliches. So vergingen Tage bis ich misstrauisch wurde und eine deiner weiteren Freundinnen anschrieb.
Als ich ihre Nachricht öffnete glaubte ich nicht meinen Augen. Nicht dem, was darin stand. Du seist im Koma.
„Ich fiel aus allen Wolken aber glaubte daran, dass dies nur ein vorübergehender Zustand war. Dass du dich schon wieder erholen würdest.“
Ich kannte dich, meine Freundin, als Kämpferin und so schätze ich dich ein. Wochen vergingen. Ich schrieb immer wieder mit deiner Freundin. Nichts veränderte sich. Ich erkundigte mich ebenfalls, ob ich dich besuchen kommen darf. Auch wenn du körperlich nicht anwesend warst, wusste ich, dass du meine Anwesenheit spüren wirst und es dir dabei helfen wird, diese schwere Zeit durchzustehen.
Aber da kam der nächste Rückschlag: Es sollten nur die engsten Familienmitglieder zu Besuch kommen dürfen. Ich respektierte diese Entscheidung – auch wenn es mir schwer fiel. Heute frage ich mich, wie es gewesen wäre und ein letztes Mal deine Hand gehalten, dir gesagt hätte, wie gern ich dir habe und wie viel ich meiner persönlichen Entwicklung dir zu verdanken habe. Zu diesem Zeitpunkt warst du 22 – genau wie ich. Also wartete ich geduldig ab bis sich dein Gesundheitszustand verbesserte und du wieder auf die Station kommen würdest, wo ich dich besuchen darf. Damals glaubte ich an das Gute. Für mich war ein negativer Ausgang unseres gemeinsamen Weges ausgeschlossen.
Dann war der Tag gekommen. Es war Ende Januar 2012. Draußen lag Schnee, es war teilweise glatt. Mit dem Auto fuhr ich etwa eine Viertelstunde zur Arbeit. Ich hatte zu dem Zeitpunkt meinen Einsatz auf der Geburtenhilfe, der Station wo jeden Tag die Babys frisch vom Kreissaal zu uns auf die Station kamen bis ihre Mütter fit genug waren, um sie mit nach Hause zu nehmen. Irgendwie war es paradox, dass ich an dem Tag mehrmals das blanke, frische Leben in den Armen hielt während ich in der Pause wie gewohnt meine Nachrichten checkte und mich ein Schauer überkam. Ich traute meinen Augen nicht und guckte mir die Nachricht immer wieder an:
„Jessy ist vorhin gestorben“
Ich weiß nur noch, dass ich auf der Stelle zusammenbrach und am ganzen Körper gezittert habe. Als hätte jemand mir den Boden unter den Füßen weggezogen, kam ich gar nicht dazu, Luft zu holen. Aus einem Weinen wurde nach Minuten ein Schluchzen. Ich sank in mich zusammen, meine Kollegen machten mir einen Tee, redeten auf mich ein, aber alles in diesen Moment war alles um mich herum stumm für mich.
Bild („Down by the river“) unter Creative Commons Lizenz von Matthias Ripp
Ich versuchte mir einzureden, dass dies bestimmt ein Versehen sein muss – immer wieder eingeholt von der Realität, dass du zu Unrecht so früh aus dem Leben gerissen wurdest.
„In diesem Moment versuchte ich zu verstehen, aber diesen Verlust in diesem Moment konnte man nicht rational erklären.“
Die Frage nach dem „Wieso“ bleibt bis heute. Die Emotionen überkamen mich, ich brach meine Schicht ab und fuhr nach Hause. Für einen Weg von etwa 15 Minuten brauchte ich an dem Tag 2 Stunden. Immer wieder hielt ich am Seitenstreifen an, versuchte zu realisieren was passierte und versank in einem Meer aus Tränen, sodass ich nicht mal die Fahrbahn erkannte.
Ich war wie in Trance, wie in einem Rausch, nicht im Moment. In Gedanken, in einem Rausch aus nicht Wahr-haben-wollen und in einem Verlust meiner Selbst.
„Mit dem Verlust von dir ist auch ein Stück von mir gegangen. Ein Stück, was mich prägte. Ein Stück, was mir den Mut gab, ich selbst zu sein ohne die Scheu vor anderen verachtet zu werden. Letztendlich ein Stück, was so selbstverständlich war, aber in diesem Moment unselbstverständlich wurde.“
Die nächsten Wochen und Monate waren der blanke Horror. Bis heute denke ich immer wieder an dich. Frage mich, wie es wäre, dich als meine Freundin in meinem Leben zu haben. Was du wohl zu gewissen Entscheidungen in meinem Leben sagen würdest? Aber ich weiß ganz genau, dass du auf mich stolz auf mich wärst. Dafür, dass ich bin wie ich bin und mich nicht davor fürchte, was jemand sagen könnte.
„Dafür einzustehen, wer man ist und diese Haltung respektvoll nach außen zu vertreten, das habe ich unter anderem von dir gelernt und dafür werde ich auf Ewigkeit dankbar sein.“
Morgen ist dein 30. Geburtstag. Immer wenn du Geburtstag hattest, wusste ich, dass es auch bei mir bald so weit sein wird. Dear Jessy, ich möchte dir für die prägende Zeit danken, für deine aufrichtige Freundschaft und deine bedingungslose Liebe. Dafür, dass du in schweren Zeiten meine Schulter zum Anlehnen warst und in schönen Zeiten mein Begleiter an der Seite, der meine Erfolge so feierte wie seine eigenen.
Du bist wunderbar. Mit dem Verlust von dir, ging ein Teil von mir, der mich zu dem machte, was ich heute bin. Der Tod von dir war für mich ebenso ein Verlust einer treuen Begleiterin, die mich dabei unterstützte, die Welt zu einem besseren gerechten Ort zu machen. Wir hatte eine Mission und die brach für mich zusammen als du weg warst. Ich habe noch einige Freunde aus unserer gemeinsamen Zeit. Doch warst du immer ein bedeutender Teil von mir. Jeder von euch ist einzigartig für mich und so warst es auch du.
„Ich vermisse dich und werde dies bis in die Ewigkeit tun.“
Deine Vijitha
Bild („Red tulips“) unter Creative Commons Lizenz von Astrid