„Aber, wenn du nicht Ärztin werden willst, wieso hast du dein Abitur gemacht?“ war damals einer der Fragen, die ich mit 17 gestellt bekommen habe. In der Orientierungsphase meiner beruflichen Karriere stand für mich selbst fest, ein direktes Studium wird mich nicht erfüllen. Aber als immer strebsames Kind war ich dazu vorbestimmt einen Weg zu gehen, der mir selbst nicht immer gefallen würde. Leistungsdruck ist kein Problem der tamilischen Gesellschaft.
„Es ist vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Dynamik, die junge und erwachsene Menschen an die Grenzen der Belastbarkeit bringt – bis hin zur Erschöpfung.“
Ob es chinesisch ab dem Kindergartenalter oder das Auslandsjahr ist – es gibt viele Möglichkeiten, seinen Horizont und seine Skills zu erweitern. Um nichts zu verpassen, drillen einige Eltern ihre Kinder bereits im Kindergartenalter. Mit 21 Jahren verlangen einige Unternehmen 5 Jahre Berufserfahrung. Alles Dinge, die Druck erzeugen. Es ist nahezu schon Normalität geworden, dass Kinder nicht mehr Kind sein dürfen, sondern möglichst viel in ihrer Freizeit erlernen sollten, um nicht später auf der Strecke zu bleiben.
Wie oft sagen wir uns in einem Moment den Satz „Ich kann nicht mehr“ und machen im nächsten Moment wieder weiter? – Weil wir denken, dass wir müssen. Wir sehen in diesen Momenten keine Alternative als, dass wir weiterhin zielstrebig, strebsam und fleißig bleiben.
„The big fat indian wedding”? Unsere berufliche Karriere? Unsere Partnerwahl? Die Anzahl der Freunde, die man hat? Oder wie talentiert wir sind? – Nur einige Bereiche, wo Wettbewerb und Druck herrscht. Wir wollen beeindrucken. Jemandem gerecht werden und dabei vergessen wir uns selbst – das ist leider meist das Endresultat vom Leistungsdruck.
„Es geht um Zahlen, Erscheinungsbild und Beliebtheit. Der eigentliche Mensch und seine Persönlichkeit geraten in den Hintergrund.“
Genau das macht sogar psychisch krank. Wir erleiden Kratzer an unserem Ego sobald ein Lebensbereich die Umgebung nicht zufrieden stellt. Hungrig sind wir auf der Suche nach Bestätigung von der Außenwelt. Erhalten wir sie nicht, weil wir beispielsweise einen anderen beruflichen Weg gewählt haben, fallen wir in ein tiefes Loch. In meinem Artikel über Bestätigung von außen schreibe ich mehr zu diesem Thema.
Was passiert mit den Menschen, die auf der Strecke bleiben? Sie kapseln sich von der Gesellschaft ab, denken sie seien nicht gut genug und rutschen manchmal sogar sozial ab.
Ich muss sagen, dass ich schon immer ein fleißiger, zielstrebiger Mensch war. Während ich am Erreichen des ersten Zieles war, hatte ich schon die nächsten Ziele geplant. Innerlich davon angetrieben, immer dem fleißigen, lieben Kind zu entsprechen, gab ich mein Bestes, um über mich hinaus zu wachsen. Und hier liegt der Unterschied. Es gibt Kinder und Personen, die von Natur aus bestimmte Eigenschaften haben und Dinge aus eigenem Antrieb tun.
Was aber vor allem Jugendliche an ihre psychische Belastungsgrenze bringt ist, dass sie sich verstoßen und abgewertet fühlen sobald sie nicht mithalten können. Wir vergessen immer wieder, dass 8 Milliarden Menschen auf der Welt nie gleich sein können.
„Und so ungleich wie wir sind, so verschiedenen sind auch unsere Ambitionen und Interessen.“
Manchmal gibt es sogar ein Ungleichgewicht unter Geschwistern. Während ein Teil das „gute, vorbildliche“ Kind ist, ist ein anderes der Sündenbock. Das Kind, von dem man am wenigsten erwarten kann. Kennt ihr den Rosenthal-Effekt? Damit wird ein Phänomen beschrieben, bei dem wir unser Handeln bewusst oder unterbewusst nach einer Vorstellung ausrichten. Wenn wir also denken, dass jemand gut und zielstrebig sei, legen wir seine gesamte Handlung danach aus. Wenn jemand aber immer als Sündenbock abgestempelt wird, dann werden Taten, die von diesem Bild abweichen, als Ausrutscher gesehen.
„Er hat doch nur eine 2 in der Klausur geschrieben, weil sie zu leicht war.“
Das heißt der Leistungsdruck steckt bereits Kinder in Schubladen. Wege sind vorgeschrieben und man selbst hat selten die Chance aus diesem Karussell auszusteigen.
Es ist nicht verwerflich, beruflich strebsam zu sein, für seine Hochzeit viel Geld auszugeben oder viele Hobbys und Freunde zu haben. Meist sind dies sogar erfreuliche Lebensverläufe. Dennoch ist es an der Zeit zu verstehen, dass nicht für jeden das Leben nach diesem Schema geeignet ist. Vor allem ist es wichtig zu wissen, dass wir alle unterschiedliche Grenzen haben. Vor kurzem habe ich gemerkt, dass ich einen guten Tag daran ausmache, wie produktiv ich gewesen bin statt zu schauen, wie ich mich am Ende des Tages fühle. Es mag sein, dass ich einen super produktiven Tag hatte, aber mich am Ende ausgelaugt und energielos fühle. Im Gegensatz dazu mag es Tage geben, wo ich nur die Hälfte von dem geschafft habe, was ich mir vorgenommen habe, aber abends entspannt ins Bett fallen kann. Ich habe mir vorgenommen, mehr auf meinen Körper und meine Bedürfnisse zu hören.
„Sich auch mal Zeit für sich zu nehmen ist immens wichtig, aber leider vergessen wir das zu oft.“
Wieso machen wir den Wert eines Menschen daran fest, was er erreicht hat oder wie groß sein sozialer Kreis ist? Ist es nicht an der Zeit, dass wir ins Gespräch miteinander gehen oder wenigstens versuchen zu verstehen, wieso jemand anders ist als man selbst? Ich möchte mit diesem Artikel an euch appellieren, auf euren Körper zu hören und eure Grenzen kennenzulernen statt sich dem äußeren Druck hinzugeben und eines Tages zusammenzubrechen. Setzt auch der Außenwelt grenzen und kämpft dafür, dass ihr als Mensch und nicht als Produktivitätsmaschine gesehen werdet.
Bild („I feel like it’s been forever“) unter Creative Commons License von Jazel Elaine Ignacio
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